Die wilde Jagd - Roman by Heyne

Die wilde Jagd - Roman by Heyne

Autor:Heyne
Die sprache: deu
Format: mobi
Herausgeber: Heyne
veröffentlicht: 2012-12-09T23:00:00+00:00


19

Tanith schob die Wandschirme beiseite und trat auf die geflieste Terrasse hinter ihrem Haus. Der Tag hatte kaum begonnen, Nebelschwaden trieben noch über den Spiegel des Sees; die Berge dahinter waren nichts als blasse Umrisse im Dunst. Auf dem silbrigen Wasser standen kleine geschlossene Lilienblüten bereit für den Tag wie Speere über den Schilden ihrer Blätter. Weit draußen auf dem See fischte ein Haubentaucher etwas aus dem Wasser, schüttelte den Kopf und verstreute Tropfenperlen in der Luft.

Astolar. Sie hatte diesen Ort vermisst. Sie war mit dem Seufzen der Birken und dem sanften Prasseln des Wasserfalls von Belaleithne aufgewachsen, und während ihrer fünf Jahre auf den Inseln hatte sie ihr Zimmer jeden Abend mit Erinnerungen an ihre Heimat gefüllt. Tiefes Moos statt Teppichen unter ihren Füßen, gewölbte Äste über ihrem Kopf statt Deckenbalken und Stein – all das hatte den Schmerz der Trennung gemildert.

Doch als sie vor fünf Wochen vom Landungssteg den Boden ihres Volkes betreten hatte, hatte es keine ruckartige Verbindung gegeben. Auf dem langen Ritt landeinwärts vom Hafen nach Carantuil hatte sie die tiefen Seen, die weit vorstehenden Dächer und die abgestuften Türme über den Bäumen wiedererkannt, aber alles war ihr sehr fern erschienen, als sähe sie es durch dickes Glas. Sogar jetzt, da sie an einem wunderbaren Frühlingsmorgen auf der Terrasse ihres eigenen Hauses stand, fühlte sie sich eher wie eine Fremde als wie eine heimgekehrte Tochter des Weißen Hofes.

Eine Brise kräuselte das Wasser des Sees, und sie erzitterte und zog die Seidenrobe enger um sich. Fünf Jahre hatte sie unter den Menschen verbracht und gelernt, eine Heilerin zu sein. Sie hatte sich an die Welt der Menschen gewöhnt, vielleicht sogar zu sehr. Möglicherweise erklärte das, warum Astolar auf ihre Seele so kalt und fern wirkte. Sie würde lernen müssen, es wieder zu lieben.

Hinter sich hörte sie die vorsichtigen Schritte ihrer Haushälterin und das Klirren von Porzellan auf der Glasplatte des Tisches, als das Frühstück serviert wurde, doch sie drehte sich nicht um. Sie hatte keinen Appetit. Nächste Woche würde sie als Erbin des Hauses Elindorien vor den Zehn stehen, und die Schmetterlinge in ihrem Bauch, die seit ihrer Abreise von den Inseln noch spürbarer geworden waren, ließen keinen Raum für Speisen.

Ohne den geringsten Laut durchbrach ein geschmeidiger Kopf den Wasserspiegel, kleiner als der eines Kindes und mit dunklem Fell bedeckt. Das Geschöpf hatte eine spitze Schnauze, und die winzigen Ohren weit hinten am Schädel waren beinahe unter dem Pelz verborgen. Große schwarze Augen beobachteten sie.

Herrin?, fragte eine Stimme in ihrem Kopf.

»Guten Morgen«, sagte sie.

Herrin! Der Kopf verschwand im Wasser und tauchte wenige Augenblicke später am Rande der Terrasse wieder auf. Die Herrin ist zurückgekehrt! Weitere Köpfe wurden aus dem Wasser gestreckt und scharten sich um den ersten. Nettigkeiten? Habt Ihr Nettigkeiten mitgebracht, Herrin? Wir lieben Nettigkeiten. Wir lieben Euch. Wir haben Euch vermisst!

»Ihr habt mich gestern gesehen. Das ist nicht sehr lange her.«

Wir haben Euch trotzdem vermisst.

Tanith musste lächeln. Die Saelkies hatten ein genauso schlechtes Zeitgefühl wie kleine Kinder; für sie war eine Stunde so lang wie eine Woche und ein Jahr so kurz wie ein Tag.



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